Jogging, Sex und das Endstadium der Ideologie

3. Juni 2014

“Ich schliesse mit einigen Ideen, was der Rede von der Leistungsgesellschaft entgegen gehalten werden kann und auf welchem Weg es heute noch möglich ist, sich dem Verwertungsprinzip in widerständiger Absicht zu entziehen. In diesem Sinn ist das Buch strikt parteiisch. Es verfolgt die Absicht, zur Abschaffung des so unsinnigen wie inhumanen Diskurses über Leistung und der ihm zugrunde liegenden Gesellschaftsstruktur beizutragen.”

- Lars Distelhorst

 

http://www.gegenblende.de/++co++60ba29ec-b980-11e3-8f2f-52540066f352/scaled/size/250

 

Das Gefühl, sehr viel tun zu müssen, und dafür aber trotzdem nicht genug zu bekommen – wer kennt es nicht? Und so schuftet die Menschheit seit Jahrtausenden unermüdlich weiter, um Essen, Geld, und Anerkennung. Geht es nach Lars Distelhorst, steckt heutzutage aber ein fundamental neuer Antrieb dahinter: die Tyrannei einer „Leistungsgesellschaft“, die sich nach dem Ende des kalten Krieges (dem berühmten „End of History“) rasend schnell ausgebreitet hat. Heute dominiert und „ökonomisiert“ der Leistungsterror so gut wie alle Lebensbereiche. Prekäre Lebensumstände, Depression und Burnout sind seine allgegenwärtigen Folgerscheinungen, wer es sich leisten kann, hält dagegen mit Yoga, Bio-Essen und Wellnessurlauben.

Oder mit oft nicht minder trendiger Gesellschaftskritik. Hiervon hebt sich Lars Distelhorst über weite Strecken sehr wohltuend ab, wenn er etwa mit geradezu unverschämter Direktheit fragt: was ist denn überhaupt eine „Leistung“ ? Zu recht verweist er darauf, dass „Leistung“ alles und nichts bedeuten kann. Ob Spitzenmanager oder Müllmann, wer wirklich „Leistungsträger“ ist, das entscheiden weniger die pseudo-objektiven Messkriterien der Wirtschaftswissenschaften, sondern der ideologische Blickwinkel. Eine einfache Erkenntnis, die heute allzu oft in Vergessenheit gerät – großartig, herausfordernd und durchaus schmerzvoll, wie konsequent einem das beim Lesen dieses umfassenden Bandes bewusst gemacht wird.

Hätte man als Individuum dann aber nicht auch die Freiheit, „Leistung“ nach eigenem Ermessen zu definieren? Distelhorst möchte zwar explizit nicht als Kulturpessimist verstanden werden, für eine solchermaßen frivole “kreative Leistung” hat er aber bestenfalls ein müdes Lächeln übrig: „Was immer wir heute machen, machen wir, als wären wir kleine Unternehmer, die stets auf den größtmöglichen Gewinn aus sind und zu diesem Zweck unablässig an der eigenen Optimierung feilen. Jogging wird zur Leistung, ebenso wie Sightseeing und das verfügbare Repertoire an Sexpositionen. Das moderne Individuum leidet folglich unter Dauerstress, neigt zu Depressionen und Burnout-Syndrom. Trotz aller Errungenschaften hinsichtlich Arbeitszeiten, Freizeit und Wohlstand, leben wir in einer stärker ausgeprägten Leistungsgesellschaft als die Minenarbeiter des vorletzen Jahrhunderts.“

Alle Achtung! Es grenzt schon an einen gewissen Zynismus, sich in die Minen oder ans Fließband zurückzuwünschen, nur weil dort wenigstens noch klare und kollektiv geteilte Ausbeutungsverhältnisse herrschten. Warum nicht gleich ins Arbeitslager? Distelhorst kritisiert inbrünstig, dass die Person eines Arbeiters und seine Arbeitskraft nicht mehr zu trennen sind, und wir auch zu nichts mehr gezwungen werden müssen, weil wir uns mit strahlender Visage am liebsten selbst ausbeuten – alles ist „Humankapital“ und also paradox geworden; selbst wissenschaftliche Bücher wie seines werden heute von LeserInnen auf Amazon.com freiwillig mit kleinen gelben Sternchen belohnt. Aber ist das wirklich nur ein Verlust? Wenn Jogging und Sex heute von Arbeit und Kapitalismus nicht mehr so scharf abzugrenzen sind, dann gilt im Gegenzug wohl auch, dass Arbeit und Kapitalismus immer mehr wie Jogging und Sex sind. Wahrlich, es hätte schlimmer kommen können.

Kommt es aber auch: der Autor beweist großes Talent darin, seine Polemik an exakt den richtigen Stellen mit entmutigenden Zahlen, alarmistischen soziologischen Zerfallsdiagnosen, und popkulturellem Flair wieder auf die Sprünge zu helfen. In der flotten, soziologisch fundierten Trendforschung ist er ganz in seinem Element, er oszilliert hier ziemlich genau zwischen Žižek, Sennet und Matthias Horx. Und wie die Altmeister seines Faches, beweist auch Distelhorst durchaus Mut zur Lücke. Dass ein fluider Leistungsdiskurs etwa auch das seine dazu beigetragen hat, die gesellschaftliche Rolle von Frauen neu zu verhandeln, tut die postmoderne Leistungskritik mit staunenswerter Leichtigkeit ab: „Im klassischen Kapitalismus war irgendwann schließlich auch der härteste Tag in der Fabrik vorbei und die Menschen gingen nach Hause, um im Kreise der Familie die Füße hoch zu legen und sich zu entspannen. Die Kehrseite [...] der Fabrik bestand in der häuslichen Ruhe, oft als Hausglück bezeichnet“.

Die Frau am Herd, die vier hungernden Kindern, die im Schichtwechsel belegten Betten auf 12 Quadratmetern, die gesellschaftlich erzwungene “Reproduktion der Arbeitskraft”? Egal, Hauptsache die Diskurskritik sitzt! Wie das beschworene „Hausglück“, erweist sich diese Kritik in letzter Instanz dann auch als ziemlich altväterlich: Retro-Marxistische Exkurse ziehen sich gleich Kapitelweise in die Länge, das kryptische „leere Zentrum“ der Gesellschaft wird da beschworen, und mit dem „tautologischen Zirkel des Kapitals“ gleichgesetzt. Letztlich fällt Distelhorst mit solchen „Simulakren“ eher wieder hinter die Schärfe seiner eigenen Trend-Analysen zurück: wenn etwa nach all den soziologischen Zerfallsdiagnosen erst recht wieder ausgiebigst von „Proletariat“ und „Bourgeoise“ die Rede ist.

So versteht zumindest dieser Leser bis zum Schluss auch nicht ganz, worin nun eigentlich der grundlegende Unterschied zwischen der materiellen Muskelkraft des Minenarbeiters und den immateriellen Sozialkompetenzen des Managers bestehen soll. Sind beide nicht trotz allem einfache Lohnarbeiter, wenn auch verschieden qualifiziert und unterschiedlich gut bezahlt? Und ist nicht auch die Unterscheidung zwischen Frust, Erschöpfung und Burnout eher eine graduelle, und individuelle? Manchmal wäre es wirklich besser, „das Kapital“ nicht zwanghaft in alle noch so flüchtigen Befindlichkeiten und Gegenwartsphänomene hineinzuinterpretieren. Verorten wir es doch lieber ausserhalb der Diskurse, dort, wo es sich tatsächlich immer mehr konzentriert: etwa auf den Konten jener 85 ausserwählten Erdenbürger, die zusammen mehr besitzen als die 2 Milliarden ärmsten Menschen der Welt.

Distelhorst weiß wohl zu viel von den Raffinessen des Kapitals, um so naiv zum Himmel zu schreien oder gar nach Reformen zu schielen. Sein abschliessender Ausblick bleibt wenig konkret und entsprechend unbefriedigend. Auf gerade mal zwei Seiten fordert der erschöpfte Leistungskritiker, die „Produktivkräfte der Gesellschaft“ in den „Dienst der Gemeinschaft“ zu stellen, natürlich unter „demokratischer Steuerung“. Ja, aber was ist denn nun wirklich „produktiv“ und was „demokratisch“? Und wer soll denn plötzlich wieder die „Gemeinschaft“ herbeizaubern, deren Ausdifferenzierung in immer individuellere Lebensentwürfe eben so klug diagnostiziert wurde?

Hier zeigt sich einmal mehr, das es zwar gut und recht ist, den Leistungswahn mittels virtuoser Diskurskritik ab absurdum zu führen. Ob es uns aber gelingen wird, aus dem ahnungsvollen Ruinenwerk der Leistungsgesellschaft eine gangbare gesellschaftliche Alternative zu schmieden, das steht vorerst noch auf einem anderen Blatt.

(F.Faltin, im Namen des Kapitals,des Transcript-Verlags und McKinsey Bruxelles Dept.)

“Rezensionen müssen mindestens 20 Wörter enthalten”